Die 8 typischen Führungs-Dilemma

Laut der Studie von Bearing Point aus 2022 gehen 96 Prozent der befragten Unternehmen davon aus, dass die Relevanz agiler Führungsansätze in Zukunft steigen wird. 

Die Vorreiter sind dabei Unternehmen aus der IT- und Technik-Branche, und die Schlusslichter bilden öffentliche Verwaltungen und Versicherungen. Die Unternehmensberatung resümiert folgende Katalysatoren für den Transformationserfolg:

  1. Führungskräfte: Die wahrgenommene Unterstützung von Führungskräften moderiert den ganzheitlichen Transformationserfolg. Mitarbeiter, die ihre Führungskräfte nicht als Treiber der Transformation wahrnehmen, liegen hinsichtlich der gemessenen agilen Reife klar zurück. Vorstände und Führungskräfte sollten zu Botschaftern und Vorbilder für Agilität werden. 
  1. Mitarbeiter: Die Qualifikation der Mitarbeiter wird als große Herausforderung agiler Transformationen wahrgenommen. Gleichzeitig steigt die agile Reifestufe in der Zufriedenheit des Einzelnen – es lohnt sich folglich, die Herausforderungen des kulturellen Wandels anzunehmen.

Vorstände und Führungskräfte sollten ihren Mitarbeitern die individuelle und bedarfsgerechte Unterstützung geben, die es ihnen ermöglicht, nachhaltig in ihre agile Rolle hineinzuwachsen. 

Drohende Umstrukturierungen schrecken nach wie vor so manche Führungsverantwortliche ab, wobei, wie die Studie zeigt, gerade sie als Vorbild im Veränderungsprozess vorausgehen sollten – denn Agilität ist wie Führung eine Form der Haltung. 

Vor allem der tägliche Umgang mit Dilemmata ist in der agilen Führung, mit ihren verschiedenen funktionalen Rollen und der stärkeren Verantwortungsübergabe an die Teams, noch ausgeprägter als im klassischen Kontext. Dilemmata kann man nicht lösen oder verhindern, man kann sie nur balancieren lernen.

Denn oftmals werden beide Seiten von Führungsrollen gefordert, obwohl sie sich auf den ersten Blick widersprechen oder gar ausschließen. Wie zwei Seiten einer Münze müssen Entscheider dieses Dilemma nicht nur aushalten, sondern die beiden Seiten integrieren lernen. So wie jede Münze eben nicht nur zwei Seiten hat, sondern eine dritte auf der sie rollen kann. Dort entsteht die wichtige Dynamik, welche zukunftsgerichtete Führung heute auszeichnet:

8 typische Führungs-Dilemma:

Kontrolle vs Vertrauen, Dilemmata agiler Führung

Kontrolle versus Vertrauen

Auf der einen Seite wünschen sich Teams mehr Verantwortung und Führungskräfte müssen lernen loszulassen; gleichzeitig wird in Zeiten der Unsicherheit der Ruf nach voranschreitender Führung, die Sicherheit vermittelt, lauter.

Führung muss also beides bedienen und das, je nach Bedarf, in unterschiedlicher Ausprägung: Mal muss sie loslassen und den Rahmen für mehr Selbstverantwortung der Teams gestalten, gleichzeitig muss sie Sicherheit vermitteln und an einer Richtung, grundsätzlichen Struktur oder Entscheidung festhalten und diese kontrollieren in der Umsetzung. In klassischen Führungsmodellen erfolgt eine ständige, mit der hierarchischen Ordnung einhergehende Kontrolle der einzelnen Teams. Der Fokus liegt hier ganz klar auf der Fehlervermeidung, da ein eher statisch agierendes Projektmanagement darauf angewiesen ist, dass es zu keinen heftigeren Irritationen kommt.

Der Mangel an Flexibilität erlaubt keine schnellen Neujustierungen oder Umwege in der Erreichung des Ziels. Das agile Team hingegen ist beinahe schon dazu aufgefordert, Irritationen zu ertasten und früh damit konfrontiert zu werden, um so in Zukunft die Lösungen bereits parat zu haben. Experimentierfreude und Kreativität finden in agilen Modellen wesentlich leichter ihre Umsetzung. Das Vertrauen in die Teams ist dabei eine Grundvoraussetzung agiler Führung. Daher muss auch Lenins weltbekanntes Sprichwort überdacht und angepasst werden, damit es nun im agilen Kontext lautet: „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.“

Vielfalt vs Fokus, Dilemmata agiler Führung

Vielfalt versus Fokus

Gerade die junge Generation sucht den Sinn in ihrer Arbeit und will sich mehr entfalten. Das bringt Meinungs-Diversität und Perspektivenvielfalt mit, die für Innovationen und komplexe Kontexte wichtig sind. Führung muss den Raum schaffen für diese Vielfalt, um die Wahrnehmung zu erweitern. Erst dadurch wird es möglich eingeprägte Muster zu verändern und Bewertungs-Schubladen zu öffnen. Vielfalt zuzulassen ist demnach eine wichtige Führungsaufgabe.  Doch ebenso dringend brauchen Teams oder Einzelne einen klaren Fokus auf das Wesentliche und sehnen sich nach entsprechenden Leitplanken, die es Ihnen ermöglichen Prioritäten zu setzen und darin den Rücken gestärkt zu bekommen. Leitplanken funktionieren nur, wenn sie die Vielfalt beschränken, und ein Sortiersystem einführen nach dem Entscheidungen getroffen werden können. Beides scheint unvereinbar, denn weder das eine noch das andere ist richtiger. Sowohl Vielfalt wie auch Fokus sind bedeutsam. Beidhändig führen zu können ist das Gebot der Stunde.  

Nähe versus Distanz, Dilemmata agiler Führung

Nähe versus Distanz

Auch die Nähe zu den Teams und die coachende Haltung der Führung entspricht den Erwartungen an eine moderne Führung. weder der Ledersessel mit der höheren Sitzposition als jeder Mitarbeiter zeichnet das Einzelbüro des Chefs aus, noch der Parkplatz für den dicksten Firmenwagen, sondern eine Du Kultur auf Augenhöhe bei der Führungsrollen die Teams coachen und unterstützen. Doch Führung bedeutet auch unliebsame Entscheidungen zu treffen, Grenzen aufzuzeigen oder Mitarbeiter zu kündigen.  Doch ohne professionelle Distanz ist es umso schwieriger derart unliebsame, aber notwendige Entscheidungen zu treffen, die den Kunden und die Zukunft der Organisation in den Mittelpunkt stellen. Wie schaffen wir beides gleichzeitig zu ermöglichen? Geht Nähe mit gleichzeitiger Distanz zu meinem Gegenüber? Können wir trotz des Verbundenheitsgefühls Distanz herstellen, um aus der Metaebene heraus die Beziehung zu betrachten? Meiner Erfahrung nach geht das nur durch Entwicklung der eigenen Persönlichkeit hinzu einer guten Selbstreflektionsfähigkeit und Differenzierungsvermögen.

Selbstorganisation versus Selbstüberlassung, Dilemmata agiler Führung

Selbstorganisation versus Selbstüberlassung 

Verantwortungsübernahme und selbstorganisierte Teams sind in aller Munde, doch mehr und mehr haben Teams das Gefühl von Selbstüberlassung. Erst kürzlich hatte ich einen Auftrag ein Team zu mehr Selbstorganisation zu entwickeln. Auslöser war die Kündigung zweier Teamleiter. Selbstorganisation sollte die Antwort auf den entstandenen Führungsmangel sein und Kosten einsparen. Aus ehemals 3 Teams wurde ein Team mit einem Teamleiter gemacht. Die Teams fühlten sich alleine gelassen in einer Organisation bei der Top Down entschieden und gehandelt wird. Selbstorganisation hingegen braucht einen passenden Gestaltungsrahmen und Schutzraum innerhalb dessen sich ein Team organisiert und Handlungsfreiräume nutzt. Innerhalb der Selbstorganisation funktioniert Führung sowohl durch Rahmengestaltung wie auch mit funktionalen Rollen, die auf Augenhöhe Verantwortung übernehmen.

Pull vs Push, Dilemmata agiler Führung

Pull versus Push

Ist durch agile Teams und die damit einhergehende Selbstverantwortung jede Aufgabenverteilung der Führung obsolet?

Im klassischen Modell vergibt die Führungskraft in ihrer autoritären Manier Aufgaben „nach unten“ weiter. Was durchaus Sinn macht, da die transaktionale Führung top-down verläuft. Von Oben vorgegebene Ziele, also von oben erteilte Aufgaben, müssen erfüllt werden.

In agilen Teams allerdings „zieht“ sich jedes Teammitglied eine Aufgabe, die den eigenen Kompetenzen und den eigenen Ressourcen entspricht. Allein dadurch, dass die Entscheidung zur Aufgabenübernahme von der bearbeitenden Person selbst getroffen wurde, lässt auf Eigeninteresse und Eigenverantwortung schließen, was in der Regel die Aufwandszeit positiv reguliert als auch die Umsetzungsqualität deutlich steigert. Doch auch hier ist das Leadership gefragt abzuwägen und auch Arbeitsaufträge ans Team zu delegieren und zu „pushen“ wenn es erforderlich.

Guiding vs Coaching, Dilemmata agiler Führung

Guiding versus Coaching

Wieviel Anleitung und Leitlinien brauchen Teams und wie stark kann die Führung als Coach wirksam sein? Viele vertreten die Ansicht, dass moderne Führung nur noch Coaching ist und wir Mitarbeiter und Teams entwickeln und unterstützen. Dem stimmen wir zu, bei dem entsprechenden Reifegrad des Gegenübers. Doch gerade in unsicheren und turbulenten Zeiten oder Krisensituationen ist eine klare Führung erforderlich im Sinne einen Weg zu bahnen und ihn manchmal mit der Machete frei zu schlagen, um das Team sicher zum nächsten Ort zu bringen.

Bewahren versus Verändern

Bei den vielen Veränderungen braucht es auch Bereiche in Teams, die bewahrt werden und stabile Zonen darstellen. Menschen brauchen als Gegenpol zum ständigen Erneuern und Optimieren auch bleibende Aufgabengebiete, Prozesse oder Rituale, in denen sie sich auskennen, die routiniert laufen und wenig Kraft kosten. Gleichzeitig verfallen Gruppen oder Einzelne sehr schnell in Gewohnheiten die oftmals nicht die besten möglichen Resultate bringen. Führung muss Teams helfen diese eingefahrenen Muster immer wieder zu hinterfragen, unangemessene Verhaltensweisen zu verlernen und neue Möglichkeiten entwickeln.  Am besten halten sich beide Bereiche die Waage: 50 Prozent darf bewahrt werden und 50 Prozent wird erneuert oder optimiert. 

Action versus Reflection

Schnelles Handeln, ausprobieren, anpassen etc. erfordert Action und nach außen gehende Kraft. Nachdenken, innehalten, hinterfragen, Achtsamkeit erfordert Reflektion, langsames Denken und Handeln welches nach innen geht. Unserer Beobachtung ist seit einiger Zeit der Action Part überstrapaziert in Unternehmen. Vor lauter Action und operativer Hektik findet so gut wie keine Verlangsamung und Reflektion mehr statt. Die dadurch entstehende Spannung steigt und findet keine adäquate Entladung, was wiederum zu unnötigen Konflikten und Frustrationen führt. Führung muss sich selbst und den Teams dann konsequent den Schutzraum fürs Innehalten, Fuß vom Gas nehmen und langsames reflektierendes Denken schaffen, um das ganze Bild wieder sehen zu können und aus der Metaperspektive tragfähige Entscheidungen zu treffen.

Als Fazit können wir festhalten: Das Patentrezept für agile Führung gibt es nicht. Doch schafft man es, diese 6 Zielkonflikte erfolgreich umzusetzen, können Führungskräfte und Mitarbeiter gemeinsam daran arbeiten, dass ihr Unternehmen sich maximal an Veränderungen anpassen kann. Agile Führung ist keine One-Man-Show von Führungskräften, doch sollten gerade diese, eine positive Feedback Kultur fördern in der die Dilemma der komplexen Anforderungen balanciert werden können..

Claudia Thonet, Agile Consulting, Portrait

Claudia Thonet

Gründerin/Geschäftsführerin
Expertin für agile Transformation/agile Führung und Teams


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