Verantwortung verteilen: Die Vorteile von Selbstorganisation
Schaut man sich derzeit in Politik und Gesellschaft um, haben wieder starke Anführer Konjunktur. Kooperation auf Augenhöhe dagegen scheint nicht nur als Regierungsmodell in Deutschland gescheitert. Heute braucht es, so die verbreitete Meinung, angesichts der vielen Herausforderungen klare Ansagen statt mühsame Mitgestaltung. Doch das ist viel zu kurz gedacht!
Denn keine noch so helle Heilsgestalt kann allein mit alten Rezepten unsere multiplen Krisen nachhaltig lösen. Und kein charismatischer Boss wird ein Unternehmen allein mit innovativen Visionen fit für eine bewegte Zukunft machen. Denn allein haben sie weder das Gesamtverständnis noch die notwendigen Lösungskompetenzen für komplexe Herausforderungen. Komplexität lässt sich deshalb mit Selbstorganisation und verteilter Verantwortung sehr viel sinnvoller bearbeiten als mit autoritärer Führung. Wie das in der Praxis konkret gelingt – und zwar ohne Hickhack! – kann man sich bei agilen Teams abschauen.
Warum ist Selbstorganisation sinnvoll?
Agile Teams wissen, wie effektive Problemlösung gelingt, weil sie es häufig mit multiplen Herausforderungen – diffizilen Produkten, vielfältigen Erwartungen (die sich nicht selten widersprechen), häufigen Veränderungen – zu tun haben. Das ist z.B. bei der Entwicklung einer Software der Fall, die gleichzeitig user-freundlich, datenschutz-konform und möglichst umfassend informativ und natürlich schnell einsetzbar sein soll.
Um eine solche Lösung zu entwickeln, müssen verschiedene Expertinnen und Experten zusammenarbeiten und aus verschiedenen Perspektiven mitdenken. Die eine Person, die das notwendige Wissen besitzt und sich gleichzeitig in die verschiedenen Kundenerwartungen hineinversetzen kann, gibt es nämlich nicht. Es kann also auch niemand „von oben“ die Ansagen machen. Deshalb gehört Selbstorganisation zu den Kernelementen von Agilität.
Was zu tun ist, um den verschiedenen Anforderungen zu entsprechen, finden agile, selbstorganisierte Teams in effektiver Zusammenarbeit auf Augenhöhe selbst heraus. Das ist sinnvoll, weil sie so kreativer entscheiden und innovativere Lösungen finden können. Zugleich können die Teammitglieder Kompetenzen und Zeit effizienter einsetzen und flexibler auf veränderte Anforderungen reagieren, ohne auf hierarchische Genehmigungsprozesse warten zu müssen.
Diese Vorteile machen Selbstorganisation auch für andere Teams interessant, die sich jenseits der IT solchen komplexen Anforderungen stellen müssen. Deshalb lohnt es sich, genauer anzuschauen, wie die selbstorganisierte Herangehensweise in agilen Teams funktioniert.
Was bedeutet Selbstorganisation im agilen Kontext?
Agil arbeitende Unternehmen setzen auf crossfunktionale Teams, die selbstorganisiert zusammenarbeiten. D. h. sie haben die Kompetenzen, sich in der täglichen Arbeit selbst zu organisieren und bei Bedarf Entscheidungen selbst zu treffen. Das tun sie immer mit einem starken Kundenfokus. Ausschlaggebend für ihre Entscheidungen ist also immer das, was die Wertschöpfung für den Kunden oder die Kundin optimiert.
Selbstorganisierte Teams agieren im agilen Kontext allerdings nicht unbedingt völlig autonom. Meist verwalten sie sich nur zu einem gewissen Grad selbst und treffen nicht alle Entscheidungen, die sie betreffen, selbst. Was genau sie entscheiden, wird durch einen vorher bestimmten Rahmen definiert. Dieser Rahmen kann agile Selbstorganisation in 4 Stufen ermöglichen. So entscheiden agile Teams
- auf Stufe 1 über alle fachlichen und inhaltlichen Aufgaben selbst,
- auf Stufe 2 zusätzlich auch über die Zielsetzung ihrer Aufgaben,
- auf Stufe 3 zusätzlich noch über die wirtschaftliche und finanzielle Planung und
- auf Stufe 4 zusätzlich zu den drei anderen Entscheidungsbereichen auch noch über Personalfragen.
- Ein Delegation-Board ist hilfreich für die Klärung, welche Entscheidungen wie von der Führung oder vom Team getroffen werden. Dazu werden die Themen, zu denen Entscheidungen anstehen, sieben Stufen zugeordnet: Entscheidet das Management allein, bindet es das Team ein oder gibt die Führung die Entscheidung komplett in die Zuständigkeit des Teams?
Selbstorganisation im agilen Kontext umfasst also ein breites Spektrum, setzt aber mindestens die Spielräume von Stufe 1 voraus. Sie sind in vielen anderen Teams meist nicht gegeben: Möglicherweise entscheiden sie zwar über einzelne Vorgehensweisen, müssen sich im Zweifelsfall aber rechtfertigen, warum sie es nicht anders gemacht haben. Nur wenn es in den definierten Kompetenzbereichen keine Einmischungen von oben gibt, arbeiten Teams selbstorganisiert.
Was ist die Voraussetzung für Selbstorganisation im Team?
Notwendige Voraussetzung ist ein gewisser Reifegrad der Teammitglieder, der mit jeder Stufe ebenfalls höher sein sollte. Denn selbstorganisierte Zusammenarbeit funktioniert nur, wenn die Beteiligten kompetent und sicher sind, in dem was sie tun, und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Diese Fähigkeiten entsteht nicht zufällig, sondern durch konsequente Teamentwicklung.
Dabei ist Commitment, also die Selbstverpflichtung, das Herzstück erfolgreicher agiler Teams: Sie lässt sich aufbauen, wenn der gemeinsame Purpose und der Nutzen für das Gemeinwohl und für jedes Teammitglied geklärt ist. Gleichzeitig sollte im Team eine Art stärkenorientierte Autonomie gefördert werden: d.h. alle tun vor allem das, was ihnen liegt und zwar weitgehend selbstbestimmt. Hilfreich dafür ist eine klare Rollenverteilung, bei der die Rollen möglichst freiwillig gewählt werden (Pull-Prinzip).
- Diese rollengebundene Selbstorganisation lässt sich auch in nicht-agilen Teams leicht ausprobieren: Für die Moderation eines Meetings werden Rollen mit spezifischen Aufgaben – z.B. als Fokus-Beschleunigerin, Stärken-Finder oder Time Keeper – verteilt, um alle aktiv zu beteiligen. Wie das funktioniert, ist in diesem Blog-Artikel ausführlich beschrieben: Agile Moderation: Pull-Rollen für mehr Selbstverantwortung
Wie lässt sich Selbstorganisation fördern?
Auch in agilen Teams ist das selbstorganisierte Arbeiten kein Selbstläufer – und bedeutet deshalb nicht einfach Selbstüberlassung (mehr dazu in diesem Blogbeitrag über die typischen Dilemmata agiler Führung). In agilen Teams gibt es deshalb Trainerinnen und Coachs, zu deren zentralen Aufgaben es gehört, die Selbstorganisation in der Zusammenarbeit zu fördern. Sie begleiten und beobachten die Arbeitsweisen, Strukturen sowie die Kommunikation und geben, wo immer nötig, Hinweise zur Agilitätssteigerung. Die entsprechenden Kompetenzen lassen sich z.B. in unserer Ausbildung zum Agile Coach erlernen – und auch in (noch) nicht agilen Teams nutzen.
Im agilen Methodenkoffer finden sich viele hilfreiche Tools, die helfen, eine guten Rahmen für selbstorganisierte Zusammenarbeit zu schaffen. Beispielsweise lässt sich die Abkehr vom Führen durch Ansagen durch agile Frameworks wie Scrum unterstützen, die Phasen und Rollen in der Zusammenarbeit definieren. Punktueller lassen sich andere agile Hilfsmittel einsetzen – z.B. regelmäßige Stand-up-Meetings, bei denen alle kurz über ihre Aufgaben und Fortschritte berichten, oder ein physisches oder digitales Kanban-Board, auf dem die Arbeitsabläufe und Aufgabenverteilung visualisiert werden. Für Transparenz bei verteilter Verantwortung sorgen auch verschiedene Canvas-Konzepte.
- Ein Team-Canvas z.B. macht sichtbar, wer welche Führungsaufgaben im Team wahrnimmt. Es hilft einem agilen Team dabei, sich selbst zu organisieren und dafür zu sorgen, dass alle eine hohe Selbstverpflichtung spüren und sich gegenseitig verantwortlich fühlen. Das gelingt auch hier dadurch, dass die Rollen weitgehend selbstgewählt werden und dadurch stärkenorientiert verteilt werden. Wie das funktioniert, erklärt dieser Blog-Beitrag: Team Canvas – Agile Teams führen und entwickeln.
Selbstorganisation ohne Führung?
Wenn Teams selbstorganisiert zusammenarbeiten, bedeutet das, dass das Management von Aufgaben mehr oder weniger in die Teamverantwortung gelegt wird. Was es nicht bedeutet ist, dass es keine Führung mehr gibt!
Agile Teams, die sich selbst organisieren, können im Gegenteil als sehr gut geführt bezeichnet werden. Nur kommt die Führung nicht länger ausschließlich von oben, also „top down“. Stattdessen organisieren sich selbstorganisierte Teams durch laterale Führung, also diejenige ohne Weisungsbefugnis, bzw. durch verteilte Führung, also shared Leadership. Wie diese Konzepte in der Praxis aussehen und wie sie sich spielerisch ausprobieren lassen – dazu demnächst mehr!
Weiterführende Links:
- Diese Ausbildung macht dich zum Ermöglicher für effektive Teamarbeit: Ausbildung zum Agile Coach