Grundannahmen agiler Coaches

Die Begleitung von Teams und Einzelpersonen in Veränderungsprozessen erfordert eine besondere Denk- und Handlungslogik agiler Coaches, um wirksam zu sein und eine laterale Führung auf Augenhöhe zu ermöglichen. Dabei sind bestimmte Grundannahmen besonders wichtig, um die Empowerment-Prozesse erfolgreich umzusetzen.

Grundannahmen agiler Coaches

Jede:r ist eine 10!

In meinen Kursen zum agilen Coach provoziere ich gerne kontroverse Diskussionen mit der Grundannahme „Jede:r ist eine 10“. Diese Annahme erfordert von uns, dass wir jedem Menschen, dem wir begegnen, eine volle 10 auf einer inneren Skala von 1 bis 10 geben, ohne Ausnahme. Dies erfordert radikale Akzeptanz und ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Interventionen, da unsere Wahrnehmung der Welt von unseren Überzeugungen geprägt ist. Der Coach muss die Stärken des Teams und des Einzelnen erkennen und an deren Entwicklungskompetenz glauben. Je nach den Themen, die unser Gegenüber aktiviert, kann diese Annahme eine große Herausforderung darstellen.

Fazit als Coach:

Öffne dein Herz und deinen Geist für die Menschen, mit denen du arbeitest. Betrachte jeden als Freund:in oder Lehrmeister:in und fokussiere dich auf die Stärken deines Gegenübers.

Menschen können sich entwickeln, ein Leben lang

Wenn sie wollen! Als Coach ist es wichtig zu erkennen, dass nachhaltige Entwicklungen nur dann entstehen können, wenn sie intrinsisch motiviert sind. Aufgezwungene oder von außen auferlegten Veränderungen führen oft zu Widerstand und sind nicht langfristig erfolgreich. Es ist jedoch möglich, dass sich auch Erwachsene weiterentwickeln und neue Fähigkeiten erlernen können, da das Gehirn ständig neue Verbindungen und Nervenzellen bildet.

Fazit als Coach:

Glaube an die Entwicklungsfähigkeit jedes Menschen, inklusive deiner eigenen! Hinterfrage Sichtweisen und mach dir blinde Flecken bewusst, indem du um Feedback bittest und Verhaltensweisen hinterfragst. Überleg regelmäßig, was du nicht siehst, um deinen Blick zu weiten. Sei flexibel in der Zusammenarbeit und stärke vor allem Stärken oder verändere Perspektiven, um neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten zu schaffen.

Jede:r hat recht – in seiner:ihrer Realität

Wie viele Kämpfe fechten Menschen im Miteinander aus, um das bisschen „mehr Recht“ als der:die andere zu haben, sei es der Partner, die Kollegin oder der Vorgesetzte. Als Coach ist demnach nicht nur das Verständnis für das Bedürfnis nach „recht haben“ wichtig, damit unser Gegenüber sich verstanden fühlt, sondern auch die Vermittlung der Unterschiedlichkeit anderer Realitäten. Immer wieder berührt mich, welcher Zauber entstehen kann, wenn Menschen ihre Sichtweisen auf die Realität verbinden oder einfach nebeneinanderstehen lassen können.

Eine Grundannahme aus dem NLP lautet: „Die Landkarte ist nicht die Welt“: Wir schaffen durch die Kultur, in der wir aufgewachsen sind, durch unsere persönlichen Prägungen und unser daraus erwachsenes Selbstverständnis eine eigene Landkarte der Welt, also unsere eigene Wirklichkeit. Sie ist konstruiert und stimmt nicht mit der Wirklichkeit anderer Menschen überein. Je ähnlicher und vertrauter wir uns sind, desto mehr Schnittmengen wird es geben, dennoch haben wir alle eine ganz eigene Realität und denken und handeln aus dieser heraus. Da wir nur in unserer Wirklichkeit beheimatet sind, fällt es uns oftmals schwer, diese nicht mit der Wahrheit oder Welt zu verwechseln. Es gibt keine objektive Wahrheit.

Fazit als Coach:

Um einen Menschen zu verstehen ist es ratsam in seinen Mokassins zu laufen, soll eine alte Indianerweisheit lauten. Ich finde das Bild passend zur 3. Grundannahme. Zuhören, verstehen, uns reinfühlen und die Welt aus den Augen der Kund:innen/Klient:innen zu betrachten ist eine wesentliche Basis, um als Coach wirksam sein zu können.

Probleme sind Ziele, die gerade Kopfstand machen

Etwas als Problem zu bezeichnen und eben nicht als Aufgabe oder Herausforderung, ist an sich schon bezeichnend. Der Begriff Problem wird meistens dann gewählt, wenn wir die Lösung noch nicht erkennen, jedoch ein starkes Bestreben haben, es zu lösen. Kennen wir bereits die Lösungen, ist es nur eine Aufgabe. Erahnen wir zumindest die Möglichkeit einer Lösung, ist das Thema eine Herausforderung. Nur wenn wir keine Lösung erahnen oder gar für möglich erachten, ist es ein echtes Problem für uns. Wir schenken dem Thema Aufmerksamkeit, weil es uns wichtig scheint. So betrachtet enthält jedes Problem ein Ziel, wie sehen nur die Lösung oder den Weg zur Lösung noch nicht. Schon die Vorstellung eines Ziels, welches auf dem Kopf steht, löst im Coaching eine positive Betrachtung der Situation aus. Dabei handelt es sich meist nicht um messbare oder konkrete Ziele, sondern oftmals um Entwicklungsziele. Achtung: jede Lösung eines Problems erfordert auch einen Preis, den wir durch die Veränderung, die damit einhergeht, zahlen müssen.

Fazit als Coach: 

Erkenne die Entwicklungschancen in Problemen der Kund:innen und sei dir über eigene blinde Flecken bewusst. Wisse, dass jede Lösung eines Problems auch einen Preis hat, den die Kund:innen bereit sein müssen zu zahlen. Es gibt keine Veränderungen ohne Schmerzen, Hindernisse und Kosten, die gezahlt werden müssen.

Es gibt keine schwierigen Mitarbeiter oder Kunden, sondern nur unflexible Coaches

Wenn wir als Coach unser Gegenüber als schwierig wahrnehmen, bedeutet das in erster Linie, dass wir selbst Schwierigkeiten haben im Umgang mit der Person. Wir haben noch nicht die innere Flexibilität in unserer Fähigkeit oder Einstellung entwickelt, um andere Reaktionen zeigen zu können. Sobald wir mit dieser Haltung unserem Gegenüber begegnen, können sich völlig neue Möglichkeiten eröffnen. Für uns selbst als Coach und natürlich auch für die anderen.

Fazit als Coach:

Jeder Kunde oder jede Kundin kann dein:e Lehrmeister:in sein, weil er oder sie dich auf eigene Themen hinweist. Je mehr du etwas als schwierig empfindest, desto klarer weist sich genau diese Situation darauf hin, dass du nicht nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hast, um mit der Lage umzugehen.

Das, was wir nicht sehen, ist relevant

Wirksames Coaching bedeutet oftmals die Sichtweise des Gegenübers auf sich selbst oder auf eine Situation zu verändern. Viele Probleme kommen daher, dass unsere Wahrnehmung eingeschränkt ist, weil alte Themen angerührt werden und wir in Stresssituationen vorwiegend auf alte Bewältigungsmuster zurückgreifen. Wir greifen auf vertraute und tausendfach eingeübte Fühl-, Denk- oder Verhaltensweisen in für unser Empfinden bedrohlichen Situationen zurück, ohne diese zu hinterfragen.

Nur wenn du als Coach mitschwingen kannst und gleichzeitig bei dir bleibst, kannst du neue Möglichkeiten anbieten, wie die Situation auch interpretiert werden könnte oder welche Optionen im Fühlen und Denken das Gegenüber hätte. 

Oftmals sind nahelegende Lösungen nur die Wiederholung eingeübter Antworten ohne echte Veränderungen zu bewirken.

Fazit als Coach: 

Selbstreflexion als Coach ist die Basis, um mit unseren Beobachtungen, Gefühlen und Gedanken die Wahrnehmung der Kund:innen zu erweitern oder zu verändern. Unserer Erfahrung nach ist es erforderlich, als Beraterteam zu begleiten. Dadurch können wir die Wahrnehmungen gegenseitig abgleichen und blinde Flecken bei Kund:innen wie auch bei uns selbst aufdecken.

Veränderung muss attraktiv sein

Veränderungen kosten Kraft. Schon die Aufgabe beim Zähneputzen auf einem Bein zu stehen oder morgens Porridge statt Nutella Brot zu frühstücken ist ein echter Kraftakt, wenn wir das täglich und nicht nur einmalig umsetzen wollen. Und solche Themen nehmen wir uns selbst vor, weil wir sie sinnvoll für den Rücken oder die Ernährung erachten. Würde uns ein anderer Mensch von derartigen Umgestaltungen überzeugen wollen, wäre das vermutlich noch schwieriger dem Folge zu leisten.

Erst wenn wir spüren, wie lange Porridge im Vergleich zu Nutella sattmacht oder wie Rückenverspannungen aufgrund der Einbeintechnik verschwinden, werden wir den Aufwand gerne in Kauf nehmen und das Neue implementieren, bis es zum „New normal“ geworden ist.

So ähnlich geht es auch den Menschen, die in ihrem Beruf jahrelang eingeprägte Entscheidungsmuster oder Arbeitsabläufe verändern sollen. Sie werden den Aufwand der Veränderung nur mitgehen, wenn diese dringlich und notwendig ist oder ein besseres und motivierendes Ergebnis verspricht als das bisherige. Veränderung muss demnach attraktiv sein und von den Betroffenen für sinnvoll erachtet werden.

Fazit als Coach: 

Mache bei jeder Veränderung dem Team, den Kolleg:innen bewusst, welche Folgen es hätte beim alten Verhalten zu bleiben und welche Aussichten die neuen Abläufe oder Verantwortlichkeiten bieten. Welche Probleme soll das Neue lösen und ist es der richtige Ansatz dazu? Vermeidet Aufträge, bei denen diese Fragen nicht gestellt werden (dürfen). Wenn der Sinn und die Notwendigkeit des Wandels und der Weg dorthin nicht attraktiv erscheinen, ist die Veränderung meist bereits gescheitert. 

Struktur schafft Verhalten

Wenn wir das Verhalten und die Interaktionen von Menschen verändern wollen, geht dies am wirksamsten, indem wir nicht nur das Bewusstsein für die Folgen des Verhaltens schärfen, sondern die äußeren Strukturen so verändern, dass sie das gewünschte Verhalten hervorbringen. Wollen wir insbesondere ein Team darin fördern, sich Feedback zu geben und über die Zusammenarbeit zu reflektieren, wird es das erst umsetzen, wenn wir die äußere Struktur dazu schaffen, in dem wir alle 4 Wochen eine Retrospektive in dem Team moderieren, bei der alle Beteiligten über die vergangene Zusammenarbeit gemeinsam reflektieren. Erst durch die wiederkehrende Struktur der monatlichen Retrospektiven wird das Team mit der Zeit das gewünschte Feedbackverhalten entwickeln.

Fazit als Coach: 

Alleine das Bewusstsein oder das Vornehmen reicht nicht aus, um Verhalten nachhaltig zu verändern. Ändere die Strukturen, sodass sie zum gewünschten Verhalten führen werden.

Das, etwas ist, darf sein

Das, was hier und jetzt Realität ist, ist das Ergebnis all unserer Handlungen und Denkweisen der Vergangenheit. Wenn wir den Status quo abwerten oder ignorieren, werten wir unsere Geschichte und Herkunft ab, die uns zu dem Jetzt geführt hat. Die meisten Menschen fühlen Botschaften in dem Tenor: „ab heute werden wir agil“ oder „wir müssen uns verändern und schneller werden“ als Abwertung ihres bisherigen Verhaltens auch als Schlechtmachen ihrer selbst. „Bin ich noch gewünscht, wenn das, was ich bisher geleistet habe und wofür ich stand, nicht mehr gut genug ist?“

Das Jetzt ist das Ergebnis bisheriger Lösungsversuche, die meistens für lange Zeit unter den vorherigen Umständen richtig waren und sich bewährt hatten. 

Fazit als Coach:

Das, was da ist, hat immer eine Daseinsberechtigung und muss erst mal gesehen und gewürdigt werden. Erst dann ist es möglich, neue Denk- oder Verhaltensweisen auf Basis der bisherigen zu entwickeln und manchmal sogar alte Muster über Bord zu werfen, weil sie die heutigen Probleme nicht mehr lösen können.

Du selbst bis die größte Intervention

Das Resümee aus allen vorher beschriebenen Grundannahmen ist, dass unsere eigene Denk- und Handlungslogik, unser Mindset, unser Handeln lenkt. Das ist wirksamer als jede noch so tolle Lehrbuch-Intervention.

Claudia Thonet, Agile Consulting, Portrait

Claudia Thonet

Gründerin/Geschäftsführerin
Expertin für agile Transformation/agile Führung und Teams


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