Die Veränderungs-Waage

Bewahren versus Verändern muss psychologisch austariert werden

Die Veränderungs-Waage, Illustration, Claudia Thonet

Selbst sehr konservative Organisationen streben mittlerweile nach agilen Ansätzen, weil die Logik von gestern für die neuen Herausforderungen nicht mehr funktioniert oder auch, weil die alten Strukturen und Hierarchien keinen Nachwuchs mehr anziehen. Dadurch sind Veränderungsbeschwörungen zum Ohrwurm in Organisationen geworden, den viele nicht mehr hören können. Auch wenn die Erkenntnis nicht mehr ignorierbar ist, dass wir so wie bisher in den Organisationen nicht weiter machen können, nervt die Dauer-Leier der Change-Ermahner und erzeugt eher Abwehr als Zustimmung.

Die Mitarbeitenden sind nicht nur genervt, sondern sie entwickeln Widerstand gegen den Wandel und bremsen ihn ab oder ignorieren ihn, solange es geht. Denn die Botschaft der Treiber von Agilität und New Work ist geprägt von der Verherrlichung neuer Arbeitsweisen und beinhaltet gleichermaßen oftmals das Schlechtmachen und die Herabsetzung der klassischen Arbeitsweisen und Organisationsstrukturen. Auch wenn das häufig nicht die vordergründige Absicht ist. Doch Hand aufs Herz: was kommt bei dir an, wenn jemand zu dir sagt: „Ab sofort musst du alles anders machen als die vielen Jahre zuvor?“ Entweder hast du das Gefühl, alles Bisherige war falsch oder eben nicht mehr gut genug und damit fühlst du dich selbst auch falsch oder nicht mehr gut genug. Oder du nimmst den Überbringer dieser Botschaft nicht ernst und bleibst deiner Linie treu. Genau das sind die beliebtesten Reaktionen, die wir als Veränderungsbeauftragte in Unternehmen zu spüren bekommen: Ignoranz oder Widerstand. 

Dabei ist die alte Arbeitsweise für sehr lange Zeit genau die richtige gewesen. Sie entsprach nicht nur unserem erforderlichen Wissen und Können, sondern war auch passgenau für die Anforderungen der Zeit: Standardisierungen waren in Zeiten der Industrialisierung der Erfolgsgarant und kontinuierliche Verbesserungen der Sprit für mehr Wachstum und Vermeidung von Verschwendungen. Führungskräfte waren die Experten und Mitarbeiter die Umsetzer und Optimierer der bestehenden Prozesse. Heute ist Erfindergeist und Innovationsfreude der Wachstumsgarant. Nicht mehr die standardisierte Umsetzung, sondern die Erneuerung und das Erkennen und Lösen von Hindernissen ist die wichtigste Kompetenz, die jedes Unternehmen braucht, um am Markt bestehen zu können. Nur wenn alle ihre intellektuellen Kompetenzen einbringen und cokreativ zusammenarbeiten, werden wir Aufgaben erfüllen und Herausforderungen meistern, die sich ständig verändern. Doch dazu ist eben genau das Abwägen der erforderten Arbeitsweisen und die Wertschätzung oder zumindest das Aushalten der Widersprüche und des Sowohl-als-auch die wichtigste Kompetenz. Weder Abwertung noch Idealisierung, weder Agilistentum noch Bewahrer-Wahn bringen uns weiter.

Die Veränderungs-Waage, Flipchart, Claudia Thonet

Eine wirksame Metapher ist dabei die Veränderungs-Waage:

Wenn Menschen das Gefühl von Ausgewogenheit zwischen dem Vertrauten und dem Unbekannten, zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen dem Bewahren und Verändern haben, dann entsteht automatisch weniger Widerstand. Der Ausgleich vermittelt den Betroffenen das Gefühl von Würdigung des Alten und erzeugt gleichzeitig die Motivation, das Neue bewältigen zu können. „Wir können 50 Prozent bewahren und haben damit eine gute Basis, auf die wir neues Verhalten aufbauen können“. 

In unseren Workshops zeichnen wir auf Whiteboard oder Metawand eine überdimensionale Waage und lassen die Teams auf der einen Seite der Wage notieren, was alles bewahrt werden soll und was zwar bleiben darf, aber einer Frischzellenkur unterzogen wird. 

Auf der anderen Seite der Waage notieren wir dann das neue, zukünftige oder das noch unbekannte, was es zu explorieren gilt, wie beispielsweise die agilen Arbeitsweisen und die neuen Teamstrukturen.

In unserem Beispiel einer Transformation eines großen Wohlfahrtsverbands gab es Folgendes zu innovieren:

  • Notwendige strukturelle und kulturelle Anpassungen durch ein sich schneller veränderndes Umfeld
  • Zeit- und Aufwandreduktion durch mehr Entscheidungsspielraum im Verantwortungsbereich der Teams
  • Die neue Generation durch ein innovatives Arbeitsumfeld für die Aufgaben begeistern
  • Generationsübergreifender Erfahrungstransfer durch gemeinsame Werte und Prinzipien

Und diese Themen werden in der Veränderung bewahrt werden:

  • Der Unternehmenszweck
  • Der klare und transparente Handlungsrahmen für wirtschaftliche Stabilität
  • Alle Arbeitsplätze und die Möglichkeit der Mitgestaltung
  • Das ausgeglichene Gehaltsmodell auf tariflicher Basis
  • Die Erfüllung der gesetzlichen Rahmenbedingungen

Fazit: Eine wahrgenommene und visualisierte Ausgeglichenheit zwischen den Polen Verändern und Erneuern schafft bei den Beteiligten das Gefühl die Veränderungen besser bewältigen zu können. Das gibt nicht nur Kraft und Zuversicht, sondern mobilisiert die Lernfreude.

Claudia Thonet, Agile Consulting, Portrait

Claudia Thonet

Gründerin/Geschäftsführerin
Expertin für agile Transformation/agile Führung und Teams


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