Serie Agiler Kulturwandel: 5 Bausteine für ein agiles Fitnessprogramm (Teil 1)

Wenn Menschen in der agilen Schatzkiste nach schnellen Lösungen für vermeintlich kleine Probleme suchen, werden sie oft enttäuscht. Das liegt nicht daran, dass die Methoden des agilen Managements bei ihnen nicht funktionieren. Meist liegt es daran, dass Probleme, um die es geht, gar nicht so klein sind, wie sie scheinen – und daran, dass die angestrebte Agilität von den vorhandenen Gewohnheiten, Haltungen und Strukturen – kurz: der Unternehmenskultur – ausgebremst wird. Um es banal zu sagen: Wenn der Chef am liebsten herumkommandiert, werden agile Formate nicht für Partizipation sorgen können. Kulturwandel braucht eines maßgeschneidertes Fitnessprogramm. Kniebeugen bringen schließlich auch nichts, wenn man sie im Sitzen macht.

Agile Kulturentwicklung / Agilität braucht Kulturentwicklung

Agilität erfordert eine gute Gesamtkonstitution. Deshalb erfordert die Agilisierung eines Unternehmens eine ganzheitliche Weiterentwicklung, weg von einer Kultur von Command & Control hin zu Augenhöhe und Austausch – und dafür braucht es mehr als ein paar halbherzige Übungen. Es braucht ein umfassendes Fitnessprogramm inklusive Veränderung der Gewohnheiten und Strukturen. 

Bei einem Kulturwandel muss ganz oben in der Hierarchie lernen, Zuständigkeiten abzugeben, Vertrauen aufzubauen und den Rahmen für mehr Selbstorganisation zu gestalten. Die weiter unten müssen lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich aus der Komfortzone herauszubewegen. Das ist leicht gesagt, erfordert aber umfassende Veränderungen im Verhalten, Mindset und Organisation der Zusammenarbeit. Eben ein ganzheitliches Trainingsprogramm. Und dafür müssen alle runter vom Sofa.

Was ist überhaupt Kultur?

Und was dann? Wie lässt sich der agile Kulturwandel praktisch bewerkstelligen? Und was konkret soll überhaupt verändert werden? Anders gefragt: Was ist überhaupt Unternehmenskultur? Kultur zeigt sich an der Art der Interaktionen in einer Organisation und spiegelt die gelebten Werte in Form von Handlungen und Ritualen. Umarmen sich die Kollegen morgens, wenn sie zur Arbeit kommen? Wird viel gelacht oder gelächelt? Was passiert, wenn eine Führungskraft oder jemand aus einem anderen Bereich den Raum betritt? Werden die Online-Meetings mit oder ohne Kamera abgehalten? Gibt es auch mal ein gemeinsames Feierabend-Getränk oder versuchen alle pünktlich nach Hause zu kommen bzw. den Rechner zuzuklappen? 

In der Kultur hat jedes Unternehmen einen eigenen, sehr individuellen Fingerabdruck. Je nach Prägung, Branche, Größe zeigen sich andere Muster, die eine eigene Dynamik entwickelt haben und sich wiederholen. Auch Landeskulturen prägen Umgang und Verhalten, und Funktionsbereiche und Rollen werden in kulturellen Eigenheiten ebenfalls spürbar: So gehen typischerweise Mitarbeitende im Controlling anders miteinander um als die an der Service Line. Weitere Faktoren, die die Kultur beeinflussen, sind die dominierenden Werte. Ein leistungsorientiertes Unternehmen rekrutiert andere Persönlichkeiten und geht anders mit ihnen um als ein sozialer Träger. Erfolgreiche und wachstumsstarke Organisationen strahlen etwas anders aus als schrumpfende, die stetig um ihre Existenz kämpfen und sparen müssen.

Diese Muster sind oftmals sehr konsistent und bestimmen damit zum Beispiel auch, wie Organisationen auf Veränderungen regieren. Schaut man hin oder duckt man sich weg? Werden Befindlichkeiten und Ängste offen thematisiert? Traut man sich Neues auch zu befürworten oder wird man dann schief angeschaut? Antworten auf solche Fragen sagen viel über die Kultur einer Organisation. Sie enthüllen auch verdeckte Regeln, die oftmals eine Kultur mehr prägen als die offenen Regeln. Wenn so deutlich wird, was einen im Unternehmen weiterbringt und was einen zum Außenseiter macht, lassen sich „hidden Agendas“ erkennen: Wie man sein muss, um erfolgreich zu sein, und wie man auf keinen Fall sein darf.

Wie lässt sich Kultur wandeln?

Die Anwendung dieser verdeckten Regeln passiert zum größten Teil unbewusst. Deshalb ist die Unternehmenskultur ist für diejenigen, die Teil der Organisation sind, oft gar nicht so leicht zu erkennen (selbst dann, wenn Außenstehende schon nach einem kurzen Gang durch die Räume eine richtige Ahnung davon bekommen). Oft herrschen zudem falsche Annahmen über das eigene Unternehmen oder Illusionen über die eigenen Stärken. Manche halten sich vielleicht für kreativ oder leistungsorientiert, liegen im Vergleich zu anderen Organisationen aber in dieser Hinsicht weit zurück.

Agiler Kulturwandel beginnt deshalb mit der Beschreibung und Reflexion der eigenen Unternehmenskultur. Dazu werden – zum Beispiel in Team- und Führungskräfteentwicklungen – die kollektiven Grundannahmen, die gelebten Normen und Werte untersucht. Dabei werden auch die täglichen Interaktionen, die sich aus vorherigen Interaktionen – z.B. aus Erfahrungen mit Belohnungen und Bestrafungen für bestimmte Verhaltensweisen – unter die Lupe genommen.

Dabei sind Handlungen viel wichtiger als Worte. Auch die noch so schönen Reden der Geschäftsführung werden nichts bewirken, wenn die Taten anders sind. Was als gut empfunden wird oder als erfolgreich, unterscheidet sich je nach Kultur erheblich. Bei den einen geht es mehr um Hilfsbereitschaft und Servicequalität, bei den anderen ums Gewinnen und die Leistung. Wenn von Dynamik und Engagement gepredigt wird, aber niemand sich um die röchelnde Kaffeemaschine kümmert, wirkt das wenig überzeugend.

Hier lässt sich praktisch ansetzen, wenn erst einmal klar geworden ist, wo ein Unternehmen kulturell steht und wo es hinwill. Gerade wenn es um einen agilen Kulturwandel geht, sind dann der Vorstand und die obersten Führungsebenen die wirkungsvollsten Agilitätstreiber, wenn sie als Vorbilder im Kulturwandel voranschreiten. Das können sie beispielsweise tun, indem sie Entscheidungswege ändern, sich systematisch Meinungen und Ratschläge von unten einholen oder sich einfach mal um die kaputte Kaffeemaschine zu kümmern. Oder, um bei unserer Metapher zu bleiben: Wenn die Chefin selbst morgens Kniebeugen macht, werden die anderen im Team sich auch eher fürs Fitnessprogramm gewinnen lassen.

Agile Kultur braucht agile Struktur

Neben den weichen Faktoren müssen sich auch die Strukturen ändern, weil sie die Werte beeinflussen und somit die Kultur formen. Denn eine Organisation wird nicht allein dadurch beweglicher und innovativer, dass sie an den Grundannahmen und Interaktionsmustern schraubt. Wenn in einem Team eine Kultur der Offenheit und Transparenz Realität ist, die Arbeitsprozesse aber nicht dementsprechend digitalisiert wurden, dann wird die Selbststeuerung trotz der gelebten agilen Werte ausgebremst. Ein kreatives und mutiges Team wird ohne die erforderlichen finanziellen Möglichkeiten keine Innovation auf dem Markt bringen.

Oder das Beispiel der Feedback-Kultur: Wie oft sprechen Organisationen davon, wie wichtig diese ist („Wir geben uns konstruktives Feedback und lernen dadurch voneinander!“) und vermitteln in Workshops die entsprechenden Kommunikationskompetenzen. Im Alltag aber ändert sich nichts, auch wenn die Werte von allen abgenickt werden und die Verhaltensweisen trainiert sind, solange es an der Struktur fehlt, die Gelegenheiten bietet, agil zu handeln. Das kann beispielsweise die konsequente Feedback-Struktur im Scrum-Framework sein. Die regelmäßigen Reviews und Retrospektiven, in dem Menschen alle 2 bis 4 Wochen über das Was und Wie der täglichen Arbeit reflektieren, funktionieren dann sozusagen wie der feste Termin im Fitnessstudio. 

Die Kunst besteht in der alternierenden Abfolge und Richtung des Wandels (» Blogbeitrag: Hacks für den Kulturwandel): Nach der Kulturveränderung kommt die passende strukturelle oder prozessuale Veränderung, dann wieder eine kulturelle Weiterentwicklung in Richtung Agilität und dann die weitere Strukturadaption und so weiter.

Kulturwandelhaus, Claudia Thonet & Svenja Hofert

Agiler Kulturwandel: Ein Haus für die Prozessplanung

Diesen Prozess zu planen, ist herausfordernd. Welche Dimension steht gerade an, Kultur oder Struktur? Wo ist ihr Bedarf und damit der Hebel am stärksten? Und wie ziehen dann die andere Dimension nach? Mit einem reinen Meilensteinplan wird der Wandel nicht funktionieren. Vielmehr braucht es dazu eine gute Mischung und Abfolge von Aktion und Reflexion. Aktion bezieht sich dabei auf konkrete strukturelle und prozessuale Veränderung und Reflexion auf die Beobachtung und Entwicklung der bestehenden Kultur und der Interaktionsmuster.

Die Planung dieses herausfordernden Fitnessprogramms lässt sich mit dem von Svenja Hofert und mir entwickelten Modell umsetzen, das wir „Kulturwandelhaus“ nennen. Es sortiert die Ebenen, auf denen Kulturveränderung stattfinden sollte, und erleichtert so den Überblick sowie die Ableitung konkrete Maßnahmen zum Wandel.

Das Kulturwandelhaus besteht aus 5 Räumen, in denen agile Entwicklung stattfinden sollte:

  1. Die gemeinsamen Grundannahmen als Fundament: Hier wird durch ehrlichen und offenen Diskurs deutlich gemacht, wovon alle im Unternehmen stillschweigend ausgehen und was nicht in Frage gestellt wird. Die Leitfrage dabei ist: Wer sind wir und was wollen wir?
  2. Das Mindset als erste Säule: Sie enthält alles, was das Unternehmen prägt, aber nicht direkt sichtbar ist – im weitesten Sinne die Haltung, im engeren Sinne die Werte und Prinzipien. Beides gilt es auf individueller und auf organisationaler Ebene zu erforschen. Leitfrage dabei: Welche Annahmen prägen unser Handeln?
  3. Das Verhalten als zweite Säule: Hier geht es um Methoden und das konkrete Üben neuer Verhaltensweisen. Dabei muss die Kopplung mit dem Mindset eng sein, denn beides entscheidet darüber, wie Führungskräfte Feedback geben oder Informationen geteilt werden. Die Leitfrage: Welches Verhalten ist gewünscht?
  4. Architektur & Design als dritte Säule: Alles, was Struktur gibt, findet hier seinen Platz: Der Zuschnitt von Teams, die Organisation von Prozessen und Frameworks wie Scrum. Die Leitfrage: Welche Struktur unterstützt die Ziele der anderen Bereiche?
  5. Die Vision als das Dach des Hauses: Die gemeinsame Vision schützt und verbindet und muss gut gepflegt werden – durch gute Kommunikation und Strategie. Die Leitfrage dabei: Wer wollen wir in Zukunft sein?

Alle fünf Elemente sind miteinander verzahnt und bedingen gleichermaßen das Trainingsergebnis – wie Haltung, Disziplin und die Ausstattung des Fitnessstudios. Sie alle sinnvoll aufeinander abzustimmen, gelingt mit Hilfe des Grundmodells leichter, das für Übersichtlichkeit sorgt und so Komplexität reduziert. Wie sich die einzelnen Räume konkret ausgestalten lassen, wird Thema der nächsten Folgen dieses Blogs sein.

Ausblick:

Das Fundament des Kulturwandelhauses ist Ausgangspunkt für alles. Es ist der Trainingsraum für Diskurs, in dem die verschiedenen Positionen und Sichtweisen, die es im Unternehmen gibt, auf den Tisch kommen – und auch Dinge, die sonst nicht gern thematisiert werden. Wie es gelingt, zu erreichen, dass alle von den gleichen Grundannahmen ausgehen und welche Methoden dabei helfen, gibt es in Teil 2 der Blogserie!

Claudia Thonet

Gründerin/Geschäftsführerin
Expertin für agile Transformation/agile Führung und Teams


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